Vorwärts in die Vergangenheit: Österreichs Gesellschaft im Wandel zwischen Zukunftsorientierung und Nostalgie
Die neuen Sinus-Milieus® von INTEGRAL
- Umbruch und starke Polaritäten in Österreichs Gesellschaft
- Neue Leitwerte: Gesellschaftliche Verantwortung, Nachhaltigkeit und Diversität
- Ein neues Milieu weckt Hoffnung
Während die einen an Freitagen für eine klimafreundliche Zukunft auf die Straße gehen, fordern die anderen an Samstagen lautstark eine Rückkehr in vergangene vermeintlich ‘bessere Zeiten‘. Wie fragmentiert und divers ist unsere gegenwärtige Gesellschaft, wie homogen sind die Ziele und Werte der Generation Z? Und wohin bewegt sich die Mitte der Gesellschaft? Eine aktuelle Bestandsaufnahme von Österreichs Gesellschaft im Umbruch.
Das Leben der Österreicher:innen verändert sich und damit ihre Lebenswelten, Einstellungen und Werte. In vielen Bereichen ist diese Transformation schon deutlich erkennbar. Die aktuelle Alltagswirklichkeit ist stark geprägt von tagesaktuellen Themen wie Energiekrise, Krieg und steigender Inflation.
Dazu kommen längerfristige Trends wie Digitalisierung, Klimawandel und Migration. Um diese neue Alltagswirklichkeit und den damit verbundenen Wertewandel der österreichischen Gesellschaft abzubilden, hat INTEGRAL die Sinus-Milieus nach gut zehn Jahren einem umfassenden Update unterzogen und zusätzlich die aktuellen Krisenwahrnehmungen bei 1.000 Österreicher:innen im Alter von 16 bis 75 Jahren erhoben.
Werte, Lebensziele, Lifestyles
Die Sinus-Milieus sind ein wissenschaftlich anerkanntes Gesellschaftsmodell. „Dieses beschreibt Menschen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage und fasst sie zu Gruppen ‚Gleichgesinnter‘ zusammen. Die Sinus-Milieus verdeutlichen, was die verschiedenen Lebenswelten in unserer Gesellschaft bewegt. Ein Blick auf die Veränderungen in der Gesellschaft seit der letzten Modellierung 2011 ist daher unser Ausgangspunkt für die Neumodellierung der Sinus-Milieus in Österreich“, erklärt Dr. Bertram Barth, Geschäftsführer von INTEGRAL.
Sorgen-Barometer auf Höchststand
Am meisten Sorgen macht den Österreicher:innen die derzeitige Entwicklung der Energiekosten.
90 Prozent haben Angst vor den steigenden Kosten für Heizung und Strom. Mit 82 Prozent belegt der Russland-Ukraine-Konflikt Platz zwei der Sorgen-Hierarchie. Auf Platz drei rangieren Bedenken hinsichtlich einer gesellschaftlichen Spaltung (77 Prozent), dicht gefolgt vom Thema Versorgungssicherheit (75 Prozent). Ex aequo teilen sich die Themen Klimawandel (73 Prozent) und die Entwicklung der Spritpreise (73 Prozent) Platz fünf. Überraschend: Weit unten bei Österreichs Sorgen-Barometer steht die Angst vor einem Blackout (57 Prozent) und nur mehr 35 Prozent der Österreicher:innen bereitet die Corona-Pandemie schlaflose Nächte.
Neue gesellschaftliche Anliegen
In Österreichs Gesellschaft entsteht daher eine neue Polarität zwischen Zukunfts- und Vergangenheitsorientierung. Diese hat vor allem mit der Frage der Veränderungsbereitschaft im Kontext von Digitalisierung sowie Globalisierung zu tun. Sie richtet sich nicht mehr nur am Alter aus.
Seit 2015 bestimmt Österreichs Gesellschaft weniger das Thema‘ Cocooning‘, sondern immer stärker die gesellschaftliche Teilhabe: Stark getrieben durch die neue Relevanz der Themen ‚Klimawandel‘ und ‚Nachhaltigkeit‘. Dabei hat die Corona-Krise nur kurz die Aufmerksamkeit von diesen Themen abgezogen und letztlich deren Relevanz sogar noch verstärkt.
Das Ende der Bürgerlichen Mitte, wie wir sie kennen
Mit einer Veränderung der Gesellschaft und deren Leitwerte entstehen auch neue Milieus, während andere verschwinden. „Die alte, staatstragende Mitte, deren zentrale Leitmotive ‚Stabilität‘ und ‚Normalität‘ waren, existiert in dieser Form nicht mehr. Abgelöst wird sie durch ein Nostalgisch-Bürgerliches Milieu, das die vermeintliche ‚Ordnung der Vergangenheit‘ wieder herstellen möchte und zum Sprachrohr des überforderten und unzufriedenen Teils unserer Gesellschaft wird. Es bildet sich Reaktanz gegen die Eliten heraus und zahlreiche Fakten werden angezweifelt. Weiters ist ein neues Milieu entstanden, das sich radikal für die nachhaltige Zukunft Österreichs einsetzt“, beschreibt Mag. Martin Mayr, Mitglied der Geschäftsführung von INTEGRAL, den Umbruch in Österreichs Gesellschaft.
Ein neues Milieu, das Hoffnung weckt – zwischen Party und Protest
‚Wir müssen umdenken‘. So lautet das Leitmotiv des neuen Milieus der ‚Progressiven Realisten‘.
Bereits 7 Prozent der Bevölkerung gehören zu diesem neu entstandenen Milieu. „Sie sehen sich als Changemaker und als Treiber:innen einer alternativlosen globalen Transformation. Sie haben ein starkes Bedürfnis nach Mitsprache und Mitgestaltung bei Staat und Gesellschaft und eine hohe Bereitschaft, sich aktiv einzubringen. Ihr Denken und Handeln ist durch Realismus und Pragmatismus und gleichzeitig auch von Selbstbewusstsein, Resilienz und Ergebnisorientierung geprägt. Sie streben nach konsequenter Umsetzung von nachhaltigen Alternativen im Alltag und einem umwelt- und klimasensiblen Lebensstil - ganz ohne Verzichtsideologie und Untergangsrhetorik“, analysiert Dr. Barth.
Mehr Relevanz für den Klimaschutz
Die Polarität zwischen Zukunfts- und Vergangenheitsorientierung zeigt sich entsprechend prägnant am Thema Nachhaltigkeit. So sind im Durchschnitt 60 Prozent dafür, dass die Politik in Österreich Umwelt- und Klimaschutz vor wirtschaftliche Interessen stellt. Bei dem neuen Milieu der ‚Progressiven Realisten‘ finden wir mit 81% den Spitzenwert der Zustimmung, während die Nostalgisch-Bürgerlichen diese Meinung nur zu 49 % unterstützen. 51 % sind bereit, für nachhaltige Produkte mehr Geld zu bezahlen – die Progressiven Realisten sogar zu 80 %, die Nostalgisch-Bürgerlichen nur zu 30%. Noch immer sind in Österreich 32 % der Meinung, dass der Klimawandel überbewertet wird. Diese Meinung vertritt kaum einer aus dem progressiven Zukunftsmilieu, wohl aber 41 % der Nostalgisch-Bürgerlichen.
Österreichs Zukunft - eine polarisierte Gesellschaft?
Die Bürger:innen fordern mehr Mitsprache und wollen gehört werden. Der Spannungsbogen zwischen Zukunft und Vergangenheit spitzt sich auch in den beiden Milieus der ‚Nostalgisch-Bürgerlichen‘ und der ‚Progressiven Realisten‘ idealtypisch zu.
„Die ‚Nostalgisch-Bürgerlichen‘ wollen zurück in die vorgebliche Ordnung und Sicherheit der Vergangenheit, die sie durch einen stärkeren Nationalbezug, durch die Beschwörung von ‚Normalität‘ und durch eine starke politische Führung erreichen wollen. Demokratische Institutionen und das Thema Klimaschutz sind für sie nicht wichtig. Die ‚Progressiven-Realisten‘ wollen eine zukunftssichere Umwandlung unserer Gesellschaft in Hinblick auf Klimaschutz und Diversität und offene, demokratische Entscheidungsprozesse“, betont Dr. Barth. Mag. Mayr ergänzt: „Die neue Mitte der ‚Adaptiv-Pragmatischen‘ hat Sympathien für beide Orientierungen und steht im Moment eher ratlos dazwischen. Sicherheit und Ordnung sind für sie wichtige Anliegen, ebenfalls aber ist ihnen die Herausforderung der Klimaerwärmung bewusst und sie sind grundsätzlich an einer offenen und demokratischen Gesellschaft interessiert.“
Vertrauen in Institutionen: Die neue Mitte ist unentschlossen
Das Vertrauen in Österreichs Institutionen ist zwar insgesamt gesunken, dafür genießen etwa der Österreichische Gewerkschaftsbund, die Caritas (jeweils 47 Prozent) oder die Vereinten Nationen (38 Prozent) nach wie vor hohes Ansehen. Die EU-Kommission (29 Prozent) und das EU-Parlament (28 Prozent) haben – im Vergleich zu 2015 – sogar wieder an Vertrauenspunkten zugelegt. Auch hier zeigen sich prägnante Unterschiede zwischen den Milieus: Während Progressive Realisten in die meisten Institutionen hohes Vertrauen setzen, spricht eine große Mehrheit der Nostalgisch-Bürgerlichen jeder Institution ihr Misstrauen aus. Die Adaptiv-Pragmatische Mitte steht diesbezüglich zwischen den beiden Polen und will sich sozusagen noch überzeugen lassen.
Die Bewältigung der anstehenden Transformationsaufgaben wird nur gelingen, wenn die ‚Adaptiv-Pragmatische Mitte‘ von Politik und Medien ernst genommen und richtig adressiert wird. „Wichtiger als die Konzentration auf die kleine Minderheit an hartgesottenen Realitätsverweigernden ist die Berücksichtigung der Sorgen der breiten Mitte. Daher müssen Änderungsnotwendigkeiten klar kommuniziert werden, konkret und nachvollziehbar sein. Notwendigkeit und Nutzen von Maßnahmen müssen überzeugend argumentiert werden. Statt großer Ankündigungen geht es um die konkreten Schritte mit Feedbackschleifen über die erzielten Ergebnisse.“ fasst Dr. Barth abschließend das Gesamtbild der neuen Sinus-Milieus zusammen.
Alle Ergebnisse stammen aus der umfassenden Bestandsaufnahme zur Österreichischen Gesellschaft und einer zusätzlichen INTEGRAL-Eigenforschung (Studie 7247).
Im Rahmen einer Online-Befragung wurden 1.000 Personen von 28. September bis 3. Oktober 2022 repräsentativ für die österreichische Bevölkerung zwischen 16 und 75 Jahren befragt.