Populistische Haltungen sind mehrheitsfähig in Österreich und Deutschland
INTEGRAL-Untersuchung zeigt im Vergleich mit deutscher SINUS-Befragung die Bedeutung der Wertewelten für politische Meinungen auf
Eine aktuelle Befragung des deutschen SINUS-Instituts zeigt hohe Zustimmung zu populistischen Erzählungen und zu Verschwörungserzählungen. Die INTEGRAL-Forschung zeigt: Deutsche und österreichische Werte unterscheiden sich kaum. Populistische Haltungen sind in der Mitte angekommen, speziell in der alten Mitte der Nostalgisch-Bürgerlichen. Die moderne Mitte ist noch unentschieden.
Hohe Zustimmung zu populistischen Meinungen
Die politischen Realitäten in Deutschland und Österreich sind unterschiedlich, die Unzufriedenheit mit der Regierung und den Parteien äußert sich aber sehr vergleichbar in einer hohen Zustimmung zu populistischen Erzählungen. So meinen mehr als zwei Drittel der Befragten in beiden Ländern, dass sich die Menschen in der Politik mehr Rechte herausnehmen als die Wählerschaft (Österreich: 69%, Deutschland 68%). Mehr als die Hälfte stimmen der Aussage zu, dass die Parteien nur die Stimmen der Wählerschaft wollen, sich aber nicht für deren Ansichten interessieren – in Österreich mit 62% etwas stärker ausgeprägt als in Deutschland mit 56%. Mehr als die Hälfte stimmen auch in beiden Ländern zu, dass demokratische Parteien alles zerreden und keine Probleme lösen (56% in Österreich, 53% in Deutschland) bzw. wichtige Fragen nicht in Parlamenten, sondern in Volksabstimmungen entschieden werden sollen (54% vs. 53%).
Das Grundvertrauen in den institutionalisierten Politikbetrieb ist gestört, aber der Glaube an die Demokratie wankt (noch) nicht. Es sind weiterhin nur Minderheiten, die demokratische Grundprinzipien in Frage stellen. Je 36% in beiden Ländern stimmen der Aussage zu, dass Demokratie eher zu faulen Kompromissen führt als zu sachgerechten Entscheidungen. Und je ein Drittel (33% in Österreich und 31% in Deutschland) sind der Meinung, dass zu viel Rücksicht auf Minderheiten genommen wird.
Offenheit für Verschwörungserzählungen
Die wissenschaftsfeindliche Grundhaltung in Österreich wurde schon öfter beklagt. Aktuell zeigt sich aber, dass die deutsche Bevölkerung dem kaum nachsteht. 59% der Befragten in Österreich und 61% in Deutschland vertrauen ihren Gefühlen mehr als Expertenmeinungen. 58% in Österreich und 52% im Nachbarland meinen, man sollte sich mehr auf den „gesunden Hausverstand“ verlassen als auf wissenschaftliche Studien. 54% in Österreich und 49% in Deutschland stimmen der Aussage zu, dass Politiker:innen und andere Führungspersönlichkeiten nur Marionetten dahinter stehender Mächte sind. Und ein Drittel der Bevölkerung in beiden Ländern entzieht sich gar dem politischen und medialen Mainstream. Alternative Realitäten haben sich in diesem Segment verfestigt:
- Der Klimawandel wird stark übertrieben und ist wissenschaftlich nicht belegt, meinen 29% in Österreich und 33% in Deutschland.
- „Die NATO hat Russland so lange provoziert, dass Russland in den Krieg gegen die Ukraine ziehen musste“: Hier stimmen 34% in Österreich und 29% in Deutschland zu.
Die moderne Mitte ist noch unentschieden
Es ist speziell die alte Mitte, das Sinus-Milieu der Nostalgisch-Bürgerlichen, die am stärksten von populistischen Haltungen geprägt ist. Dieses Milieu fühlt sich mit seiner Orientierung an „Mitte und Maß“, mit seiner Forderung nach Klarheit, Ordnung und Normalität von den Eliten missachtet und fürchtet den zukünftigen Verlust seines hart erarbeiteten Wohlstandes. Auch die moderne Mitte der Adaptiv-Pragmatischen ist populistischen Erzählungen und Verschwörungsideen gegenüber aufgeschlossen. Diese Milieus der Mitte - also das bürgerliche Segment - definieren in hohem Maß, was in einer Gesellschaft als normal gilt. Daher sind die Ergebnisse insbesondere mit Blick auf mögliche politische Entwicklungen von Bedeutung.
Insbesondere die Adaptiv-Pragmatische Mitte ist eine wichtige Brücke zwischen modernen und traditionellen Milieus. Sie ist "Königsmacher" in der Politik und entscheidet darüber, welches politische Lager Mehrheiten in der Gesellschaft erreicht. Das eigentlich veränderungsbereite und zukunftsorientierte Milieu sieht sich erheblichen Zumutungen gegenüber, die die Verwirklichung einer angestrebten bürgerlichen Normalbiografie (Haus, Kinder, Auto) gefährden. Sie sind verunsichert und von Regierung und politischem System frustriert.
Dazu meint Bertram Barth, Geschäftsführer von INTEGRAL: „Die gute Nachricht ist, dass die moderne gesellschaftliche Mitte grundsätzlich weiterhin erreichbar für konstruktive und zukunftsorientierte Politik ist. Sie braucht allerdings eine klare Perspektive und will verstehen, welche Maßnahmen sinnvoll und zielführend sind. Hier müssen politische Entscheidungsträger sicher noch dazulernen.“
Methodischer Hinweis
- Anlass: Eigenforschung von SINUS-Institut (DE) und INTEGRAL (AT). Für die Abfrage zum Populismus wurde die Itembatterie aus der deutschen „Mitte“ – Studie von Zick und Küpper (2021) verwendet.
- Befragung Österreich: Die verwendeten Daten beruhen auf einer Online-Umfrage von INTEGRAL unter Mitgliedern des AUSTRIAN ONLINEPOOL, an der 1.000 Personen zwischen 26.01. und 31.01.2023 teilnahmen. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die österreichische Bevölkerung von 16 bis 75 Jahren.
- Befragung Deutschland: Die verwendeten Daten beruhen auf einer Online-Umfrage des SINUS-Instituts im Online-Access-Panel der GapFish GmbH, an der 1.049 Personen zwischen 22.05. und 31.05.2023 teilnahmen. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die deutsche Bevölkerung von 18 bis 69 Jahren.